Am 27. Mai 2019 wurden in Moers weitere neun Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus gelegt, sodass es jetzt 101 sind. Der Künstler Gunter Demnig, Begründer des Stolperstein-Projekts, verlegte die Steine auch in diesem Jahr selbst.
Musikalisch wurde die Stolpersteinverlegung durch die junge Posaunistin Jil Torkler gestaltet.
Seit 2013 haben der Verein „Erinnern für die Zukunft“ und die „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ in jedem Jahr gemeinsam die feierliche Verlegung der Gedenksteine vorbereitet. Wie in den vergangenen Jahren beteiligten sich Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Schulformen und bereiteten mithilfe ihrer Lehrerinnen und Lehrer eigene Beiträge vor. In einigen Fällen nahmen auch Familienangehörige an der Gedenkfeier teil.
Den Auftakt machte in diesem Jahr die „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ mit insgesamt fünf Gedenksteinen für jüdische Opfer.
Bürgermeister Christoph Fleischhauer leitete die Veranstaltung ein.
An der Repelener Str. 2 lebten die Geschwister Mathilde, Ernst und Karl Kaufmann.
Mathilde Kaufmann, eine angesehene Schneidermeisterin, die Lehrlinge und Gesellinnen ausbildete, war 1928 in den Vorstand der Moerser Damenschneiderinnen-Innung gewählt worden. 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.
Ihr Bruder Karl Kaufmann zählte vor 1933 als geachteter Bürger und Geschäftsmann zu den Vorstandsmitgliedern der Fleischer-Innung in Moers. Danach geriet er mehrmals in ernsthafte Schwierigkeiten, kam sogar in „Schutzhaft“, weil er sich öffentlich kritisch über das nationalsozialistische Regime geäußert hatte. Seine 1929 mit einer nichtjüdischen Frau geschlossene Ehe wurde 1940 geschieden, nachdem Karl 1939 mit seinem Bruder Ernst in die Niederlande geflohen war.
Sie hatten den Plan, von dort aus nach Amerika zu emigrieren, was ihnen jedoch nicht gelang. In den Niederlanden wechselten sie mehrmals ihren Aufenthaltsort und starben 1941 und 1942 unter nicht geklärten Umständen in einer Pension in Amsterdam.
Schülerinnen und Schüler der Heinrich-Pattberg-Realschule würdigten die Geschwister Kaufmann durch ihre Beiträge, die sich mit deren Biografien auseinandersetzten. Fragen nach dem ungeklärten Schicksal von Karl und Ernst Kaufmann in den Niederlanden wurden in Redebeiträgen reflektiert.
Das Ehepaar Ella und Emil Moses lebte am Nordring 9. Von Beruf war Emil Moses Viehhändler. Den beiden Söhnen aus Emil Moses´ erster Ehe gelang es, nach Nord- und Südamerika zu fliehen.
Ella und Emil Moses wurden am 10.12.1941 von Moers nach Riga verschleppt, wo beide ermordet wurden.
Die Wortbeiträge von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Adolfinum verdeutlichten eindringlich die schrecklichen Umstände der Massen-Deportationen von Düsseldorf nach Riga sowie des Lebens und Sterbens im dortigen Ghetto.
„Erinnern für die Zukunft“ beschäftigt sich seit einiger Zeit damit, die Schicksale von Opfern sogenannter „Euthanasie“morde (Krankenmorde während des Nationalsozialismus) zu erforschen und zur Erinnerung an diese Menschen Stolpersteine zu verlegen. Der damals verwendete Begriff „Euthanasie“ bedeutet im Wortsinn „guter Tod“. Im Nationalsozialismus sollte so verdeckt werden, dass Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen systematisch ermordet wurden.
Link: Was versteht man unter „Krankenmorden“?
Auch Veronika Dawidowski, Helmut Schön, Magdalena Hirtz und Friedrich Dreier aus Meerbeck / Hochstraß wurden Opfer von Krankenmorden.
Veronika Dawidowski, geb. Drzewicka, Jahrgang 1889 lebte in der Alsenstr. 13m in Hochstraß und war Mutter dreier Kinder und Großmutter mehrerer Enkel. Am 7. Mai 1942 wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg eingewiesen, am 19. Februar 1943 nach Thüringen in die Anstalt Mühlhausen-Pfafferode gebracht und dort bereits am 14. Mai 1943 ermordet. Über den Grund ihrer Einweisung in die Psychiatrie, ihre weitere Entwicklung und die Umstände ihres Todes ist nichts bekannt.
Schülerinnen und Schüler der St. Marien-Grundschule in Moers-Hochstraß trugen Texte vor, in denen sie Gedanken zum Schicksal Veronika Dawidowskis zum Ausdruck brachten sowie die Lebensbedingungen während des Nationalsozialismus den heutigen gegenüberstellten. Der unmenschliche Umgang mit Kranken und Schwachen in der damaligen Zeit wurde durch Informationen und selbst erstellte Plakate erläutert und mit einem christlichen Menschenbild sowie den Werten solidarischen, friedlichen Zusammenlebens konfrontiert. Die Darbietung endete mit einem Text von Clemens Kunze „Ich kann nicht Frieden machen auf der ganzen Welt“. Ein Enkel Veronika Dawidowskis nahm an der Stolpersteinverlegung teil.
Helmut Schön wurde 1914 geboren und lebte in der Lindenstr. 7. Sein Vater war Bergmann. Helmut gelang mit gutem Erfolg der damals übliche Volksschulabschluss. Trotz guter Gesundheit bekam er keine feste Arbeitsstelle. Er muss eine schwierige Persönlichkeit gewesen sein. 1934 wurde er amtsärztlich untersucht und unmittelbar darauf in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau eingeliefert mit der Diagnose „Einfache Seelenstörung“. Im März 1935 wurde er dort unfruchtbar gemacht (Zwangssterilisierung). Bis 1942 hat der Vater in mehreren Anträgen erfolglos darum gebeten, seinen Sohn aus der Anstalt zu entlassen. 1943 wurde er in die Pflegeeinrichtung nach Uchtspringe in Sachsen-Anhalt verlegt. Dort starb er am 18.2.1944 angeblich an Tuberkulose und Schizophrenie. Auch in diesem Fall handelt es sich um einen Krankenmord.
Eine Schülerin der Geschwister-Scholl-Gesamtschule gab zunächst eine Zusammenfassung des Lebens von Helmut Schön – seine familiäre Situation, schulische, körperliche und geistige Entwicklung sowie seine Krankengeschichte. Dann verlas ein Schüler die seitenlange, sehr ergreifende Antwort des Vaters auf die telegrafische Todesmitteilung seines Sohnes an die Anstalt. Eine weitere Schülerin gab die lakonischen, bürokratischen Antworten wieder. Es war sehr bewegend und man konnte die Verzweiflung und Trauer förmlich spüren.
Ein Neffe Helmut Schöns fand mahnende Worte zur Verantwortung jedes Einzelnen, dass solche Dinge nie mehr geschehen dürfen.
Magdalena Hirtz, geb. Schütz kam 1889 zur Welt und wohnte in der Ruhrstr. 51. Gemeinsam mit ihrem Ehemann hatte sie einen Sohn, außerdem eine unehelich geborene Tochter. Am 26.10.1935 wurde sie in der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau aufgenommen, da sie – ohne äußere Gründe hierfür – in den vorangegangenen 1 ½ Jahren eine Geisteskrankheit entwickelt habe. In der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau galt Magdalena Hirtz als eine störende Patientin, die nicht arbeiten wollte.
Am 8.3.1940 wurde sie mit einem Sammeltransport nach Brandenburg in die Landesanstalt Görden verlegt, die als eine T4-Zwischenanstalt fungierte. Von hier aus wurde sie am 7.4.1941 in die Anstalt Brandenburg gebracht, in der sie noch am selben Tag dem Gasmord und somit auch der „Aktion T4“ (siehe oberen Link Krankenmorde) zum Opfer fiel.
Auch hier hat sich der Geschichtskurs der Jahrgangsstufe 13 der Geschwister-Scholl-Gesamtschule mit dem Schicksal von Magdalena Hirtz auseinandergesetzt: Eine Schülerin machte durch einen außergewöhnlichen „inneren Monolog“ die Zerrissenheit, Wut, Angst, Sorge und Hilflosigkeit von Magdalena deutlicher, als es jede Beschreibung gekonnt hätte. Unterbrochen wurde dieser Vortrag von Gedanken Alfred Hoches über „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Die Anwesenden waren so fasziniert und betroffen, dass zunächst keiner applaudierte.
Unmittelbar anschließend informierte ein Schüler zusammenfassend über Magdalenas Lebenslauf, die „Aktion T4“, der sie zum Opfer fiel, sowie die Wichtigkeit und Pflege der Erinnerungskultur.
Schülerinnen der 6. Stufe legten im Sinne der Namensgeber ihrer Schule weiße Rosen an den Gedenksteinen für Helmut Schön und Magdalena Hirtz nieder.
Friedrich Dreier kam am 29. September 1917 als 9. Kind des Bergmanns Friedrich Ernst Dreier in der Lindenstraße 56 zur Welt. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete er als Landwirtschaftlicher Gehilfe und Hilfsarbeiter im Umkreis von Moers, bis er im April 1938 zum Reichsarbeitsdienst (RAD) einberufen wurde. Er hat sich wohl ungebührlich verhalten und wurde bestraft. Was immer dort auch geschehen sein mag – als er Ende Oktober nach Hause kam, sagte er seinem Vater, dass er „nicht mehr ganz richtig“ sei. Dieser Zustand verschlechterte sich, sodass er im Juni 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau eingewiesen wurde. Von dort wurde er neun Monate später nach Hessen in die Landesheilanstalt Eichberg verlegt, wo er am 30.12.1941 laut Patientenakte an „Siechtum bei Schizophrenie“ gestorben ist. Er wurde nur 24 Jahre alt.
Schülerinnen und Schüler der integrativen 8. Klasse der Justus-von-Liebig-Hauptschule aus Meerbeck haben sich dem Schicksal Friedrich Dreiers durch eine Art „Akrostichon“ genähert: Sie hefteten die gestalteten Namensbuchstaben auf eine Tafel und gaben jedem einzelnen Buchstaben eine Bedeutung, die einen Bezug zu Friedrich Dreier hatte. Anschließend machten sie durch Rosen an der Tafel auf die heutige Situation von Menschen mit Handicap aufmerksam.
Weitere Informationen https://erinnernfuerdiezukunft-moers.de/verein/unsere-arbeitskreise/stolpersteine/