Am 7. Oktober 2020 wurden in Moers weitere neun Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus gelegt. Insgesamt sind es jetzt 110. Der Künstler Gunter Demnig, Begründer des weltweiten Stolperstein-Projekts, war auch in diesem Jahr nach Moers gereist, um die Steine selbst einzufügen.
Die musikalische Begleitung übernahm Tom Gerstenberger mit Gitarre, Mundharmonika und Gesang. Die Lieder hatte er sorgfältig für den jeweiligen Anlass ausgesucht und z.T. für diese Veranstaltung bearbeitet.
Wie in den vergangenen Jahren seit 2013 wurde die Aktion von den Vereinen „Erinnern für die Zukunft“ und „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ vorbereitet. Schüler*innen unterschiedlicher Schulformen gestalteten mit Unterstützung ihrer Lehrerinnen und Lehrer jeweils die kleine Gedenkfeier.
Coronabedingt gab es kurzfristige Änderungen bei den teilnehmenden Schulen.
Es war sehr erfreulich, dass bei drei Verlegungen Familienangehörige an der Gedenkfeier teilnehmen konnten.
Die fünf Stolpersteine, die Ehrenamtliche des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ betreut haben, betreffen ausschließlich Opfer der Krankenmorde, d.h. von den Nationalsozialisten ermordete Menschen mit psychischen, geistigen oder körperlichen Erkrankungen oder auch nur Auffälligkeiten, Normabweichungen.
(Siehe unten: Was versteht man unter „Krankenmorden“?)
Die lokalen Schwerpunkte der Verlegung waren in diesem Jahr die Stadtteile Scherpenberg und Hochstraß.
Zu der von Bürgermeister Christoph Fleischhauer eröffneten Auftaktveranstaltung für Gustav Grünewald an der Homberger Straße 342 waren zwei Urenkelinnen mit Familien angereist. In ihren Redebeiträgen begründeten sie, wie wichtig es in der heutigen Zeit sei, das Andenken an Opfer von Krankenmorden der Nationalsozialisten aufrechtzuerhalten.
Vor dem Hintergrund ihres Berufes als Ärztin war es einer der beiden Urenekelinnen ein besonderes Anliegen, den Wert und die Erhaltung jedweden Lebens herauszustellen.
Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Gesamtschule gaben zuvor eine Zusammenfassung des Lebens von Gustav Grünewald – seinen Werdegang, seine Erkrankung (die man heute wohl mit Demenz bezeichnen würde) und seinen Leidensweg durch die Heilanstalten:
Gustav Grünewald wurde als Sohn eines Wirtes 1869 geboren und zog 1905 mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Moers. 1914 erfolgte der Umzug in das neu gegründete Lokal Grünewald, dem heutigen chinesischen Restaurant Ecke Homberger-/Cecilienstraße.
Das gutbürgerliche Lokal war bekannt und erfolgreich.
Gustav Grünewald wurde am 20. April 1943 in die zuständige Psychiatrie von Düsseldorf-Grafenberg eingeliefert. Ärzte bescheinigten ihm eine „senile paranoide Geistesstörung“. Einen Tag später wurde er in die Heil- und Pflegeanstalt Johannistal-Waldniel und am 6. Juli „aus Luftschutzgründen“ in die Anstalt Ueckermünde am Stettiner Haff verlegt. Bereits ein halbes Jahr später, am 31. Dezember 1943, verstarb er nach „zwei Wochen zunehmender Hinfälligkeit“ (Eintrag in der Krankenakte).
Gertrud Coblenz, geb. Dohm, Jahrgang 1886, lebte mit ihrem Mann in der Karlstr. 86. Über sie ist sehr wenig bekannt. Dies trifft auf viele Opfer der Zwangseuthanasie zu, selbst in den Familien wurden oft keine Informationen weitergegeben. Im Alter von 52 Jahren wurde Gertrud Coblenz 1938 in die Psychiatrie in Bedburg-Hau eingeliefert und nach mehreren Verlegungen in sogenannte „Zwischenanstalten“ am 29.7.1941 in die Tötungsanstalt Hadamar deportiert und am selben Tag in der dortigen Gaskammer ermordet. Zur Verschleierung und um weitere Pflegegelder einzustreichen, wurde ein drei Wochen späteres Todesdatum angegeben.
Ebenso wie Johann Schürmann und Ernst Hartmann wurde sie ein Opfer der berüchtigten „Aktion T4“ (siehe unten), benannt nach dem Sitz der zuständigen Berliner Behörde in der Tiergartenstr. 4.
Zwei Schülerinnen und ein Schüler der Geschwister-Scholl-Gesamtschule würdigten Gertrud Koblenz durch ihren Beitrag und erläuterten die menschenverachtende Todesmaschinerie der zwischen Januar 1940 und August 1941 durchgeführten Krankenmorde, die später mit „Aktion T4“ bezeichnet wurden.
Auch bei dieser Verlegung konnten Verwandte begrüßt werden.
Johann Schürmann wurde 1895 in Hochstraß geboren. Zuletzt wohnte er in der Schmale Straße 2. Es ist nicht bekannt, warum er im Februar 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt in Bedburg-Hau eingewiesen wurde. Ab Anfang März 1940 wurde die Anstalt zu einem wesentlichen Teil „geräumt“, um ein Marinelazarett einzurichten. 1783 Patienten wurden „verlegt“, zumeist in Tötungsanstalten, wo sie am selben Tag ermordet wurden („Aktion T4“). Am 8. März 1940 ging ein Transport mit 355 Patienten in die Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel. Neben anderen Moersern war auch Johann Schürmann unter den Opfern. Mehr als eine Liste von Namen ist nicht überliefert.
Die Wortbeiträge von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Rheinkamp erläuterten ausführlich die Hintergründe sowie den Ablauf der Aktion T4 – angefangen vom Meldebogen über den Vorgang der Tötungen bis zu den gefälschten Angaben in den „Trostbriefen“ der eigenen Standesämter der Tötungsanstalten. Außerdem hatten sie sich mit den möglichen Gedanken und Gefühlen Johann Schürmanns in Form eines fiktiven Tagebuchs auseinandergesetzt. Indem sie Tagebucheinträge sowie die dazu passenden Sacherläuterungen abwechselnd vortrugen, entstand für die Zuhörer ein intensiver Eindruck des erschütternden Geschehens.
Überraschend und besonders erfreulich war die Anwesenheit einer Großnichte von Johann Schürmann, die durch eine Internetinformation von dieser Aktion erfahren hatte. Sie hat von einem Großonkel, der hier im Hause ihrer Oma gelebt habe, nichts gewusst und war erschüttert über dessen Schicksal. Die Oma habe nur immer gesagt: „Kind, wenn du wüsstest…“
Ernst Hartmann kam 1901 in Dresden zur Welt. Im Jahre 1922 zog er nach Moers und fand eine Beschäftigung als landwirtschaftlicher Arbeiter. Seit Mai 1936 lebte er in der Beuthener Str. 1. Ernst Hartmann war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. 1937 wurde er in der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau aufgenommen. Über die Gründe seiner Aufnahme und über seinen Aufenthalt ist nichts bekannt. Am 6. März 1940 verlegte man ihn mit 149 anderen Männern von Bedburg-Hau in die Zwischenanstalt nach Waldheim. Ernst Hartmann wurde, gemeinsam mit weiteren Moersern, am 2. April 1940 in die Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel deportiert und noch am selben Tag durch Gas ermordet.
Durch ihre schwarz-weiße Kleidung und mitgebrachte Kerzen unterstrichen 17 Schülerinnen und Schüler der Rheinberger Europaschule den feierlichen Charakter der Stolpersteinverlegung. In ihren Wortbeiträgen und anhand eines großen, aufklappbaren Plakates trugen sie die Lebensdaten Ernst Hamanns vor, verdeutlichten die Vorgehensweise der „Aktion T4“ und appellierten an die Öffentlichkeit, angesichts von Unrecht nicht gleichgültig, sondern engagiert zu sein. Hervorzuheben ist, dass sie für eine andere Schule eingesprungen waren und nur eine Woche zur Vorbereitung auf diese Gedenkfeier hatten.
In der Donaustr. 32 lebte Ignatz Wozniak. Er wurde 1920 in Moers geboren. Nach der 6. Klasse wurde er aus der Volksschule entlassen. Anschließend arbeitete er u.a. als Melker und Lagerarbeiter. Anfang Oktober 1939 erfolgte die Einberufung zur Wehrmacht. Trotz mäßiger Prüfungsergebnisse erklärte man ihn als tauglich. Nachdem er Anfang 1941 bei der Verteidigung wichtiger Anlagen gegen Luftangriffe eingesetzt worden war, verbrachte er anschließend mehrere Monate im Lazarett. Ein Zusammenhang zwischen seinen Erlebnissen als Soldat zu Beginn des Jahres und seiner Einlieferung ins Lazarett liegt nahe. Dort wurden die Diagnosen „angeborener Schwachsinn mittleren Grades“ und „Schizophrenie“ gestellt. Man erklärte ihn nach seinem Lazarettaufenthalt für dienstunfähig und entließ ihn im August 1941 nach Hause. Die Ärzte betonten, dass seine Dienstunfähigkeit angeboren und nicht auf eine Wehrdienstbeschädigung zurückzuführen sei. Im Februar 1942 wurde Ignatz Wozniak in die Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg eingewiesen. Nach Altscherbitz, einer Heil- und Pflegeanstalt bei Leipzig, wurde er im März 1943 verlegt. Er starb dort am 28.01.1944, sehr wahrscheinlich an Unterernährung, medizinischer Vernachlässigung oder gezielter medikamentöser Tötung.
Sieben Schülerinnen des Gymnasiums in den Filder Benden präsentierten als Ergebnis der Reflexion über Ignatz Wozniaks Lebensweg einen einfühlsamen Beitrag, der eine Reihe von Denkanstößen gab: Ausgehend von der Fiktion, es habe in der damaligen Zeit schon Smartphones gegeben, wurde ein Dialog, der die letzten Etappen seines Lebens umfasste, zwischen Ignatz und seinen Eltern vorgetragen und auf Plakaten veranschaulicht.
An der Stolpersteinlegung für Ignatz Wozniak nahmen dessen Neffe, der auch das Wort ergriff und seine Frau teil. Er erklärte, wie erschüttert er war, von einem Onkel zu erfahren, von dem in der Familie nie gesprochen worden sei und wie sehr dieser dem Bruder, der in dem Haus nebenan gewohnt habe, gleiche. Er halte es für sehr wichtig, dass die Erinnerung an diese Menschen nicht verloren gehe und bedankte sich bei den Schülerinnen für ihren wunderbaren Beitrag.
In der Homberger Straße 13 ließ die „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ insgesamt vier Gedenksteine für die Familie Isaacson verlegen. Es kann als Beispiel für die Zerstörung einer ganzen Familie durch die Nationalsozialisten gesehen werden, ohne dass ein Mitglied direkt getötet wurde. Die Mutter, Rosa Isaacson, geb. Kann, Jahrgang 1886, führte ein Hutmachergeschäft in der Homberger Str. 13. Dort befand sich auch die Wohnung der Familie. Ihr Ehemann war Leopold Isaacson, geboren 1880. Die beiden 1914 geborenen Söhne, Zwillinge, gingen unterschiedliche Wege: Ernst-Wilhelm Isaacson wurde Kaufmann. Er floh 1935 nach Holland und 1938 nach Palästina. Sein Bruder Heinz-Josef Isaacson studierte in Berlin jüdische Theologie mit dem Ziel, Rabbiner zu werden. Auch er floh 1938 nach Palästina, erlag dort jedoch schon 1940 einer Krankheit.
Rosa Isaacson starb 1936 bei einem Besuch ihres Sohns in Berlin an den gesundheitlichen Folgen der fortwährenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Ihr Mann durfte das Geschäft nicht weiter betreiben und musste das Haus in der Homberger Straße verlassen. Er wählte Anfang 1939 die Flucht in den Tod.
Eine Schülergruppe der Heinrich-Pattberg-Realschule ließ in sehr persönlichen Darstellungen das Leben der Familie Isaacson Revue passieren und unterstrich dieses durch entsprechende private Fotos von dem Hutgeschäft und Wohnhaus, den kleinen Jungen, einem fröhlichen Familienausflug mit Freunden u.a.
Zum Abschluss sang Tom Gerstenberger „Dona, Dona“ in jiddischer Sprache während – wie bei allen Stolpersteinen – Blumen niedergelegt wurden.
Was versteht man unter „Krankenmorden“?
Der während des Nationalsozialismus verwendete Begriff „Euthanasie“ bedeutet im Wortsinn „guter Tod“. Damit sollte die Tatsache verdeckt werden, dass Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges systematisch ermordet wurden. Pflegeheime für psychisch oder geistig Kranke wurden zu Lazaretten. Aus kriegswirtschaftlichen Erwägungen und unter dem Einfluss der Eugenik („lebensunwertes Leben“) wurden Pläne zu massenhaftem Krankenmord entwickelt.
Als erste, zentrale Tötungsmaßnahme fand die „Aktion T4“ zwischen Januar 1940 und August 1941 statt. Sie ist nach dem Sitz der damals zuständigen Behörde in Berlin, Tiergartenstr. 4, benannt. Im Rahmen von „T4“ wurden Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten, wie z.B. Bedburg-Hau, in zentrale Tötungs-Anstalten „verlegt“. Dort wurden sie noch am selben Tag durch Gas oder Giftspritzen ermordet. In diesen sechs Anstalten wurde die systematische Ermordung durch Gas erprobt. Diese Erfahrungen nutzte man später für die Massenvernichtung in Konzentrationslagern. Oft wurden die Patienten zuvor in andere Heil-Anstalten gebracht, um Spuren zu verwischen, den Besuch von Angehörigen zu verhindern und um den reibungslosen Ablauf der Ermordung zu organisieren. Zur Tarnung erstellten Sonderstandesämter Sterbeurkunden mit gefälschten Todesdaten und Todesursachen, z.T. auch falschen Ortsangaben. Dadurch sollte die Aufmerksamkeit der Angehörigen und der Öffentlichkeit auf die massenhafte Ermordung der Kranken verhindert werden. In der Regel wurde das Todesdatum um einige Wochen verschoben, um für diesen Zeitraum noch das Pflegegeld der Ermordeten einzustreichen.