Abdruck des Berichts in Rheinische Post am 07.01.2021
von Anja Katzke
Die NS-Dokumentationsstelle ist ins Alte Landratsamt am Kastellplatz umgezogen. Dort steht sie allen zur Verfügung, die an der Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert sind. Geleitet wird sie ehrenamtlich von Bernhard Schmidt.
MOERS 20.000 Dokumente und Fotos, 300 Tonbandaufnahmen und Interviews, 30 Regalmeter Ordner und 15 Regalmeter Bibliothek: Der Umzug der NS-Dokumentationsstelle aus dem Weißen Haus an den neuen Standort ist vollbracht: Die große Sammlung über die Moerser NS-Zeit, deren Grundstock vor fast 35 Jahren mit der Sammlung zu Widerstand und Hermann Runge gelegt wurde, hat ihren Platz im Alten Landratsamt gefunden. „Wir sind so glücklich, hier oben im Dachstübchen angekommen zu sein. Es ist der schönste Raum im ganzen Haus. Die Symbiose zwischen einem städtischen Kulturbetrieb und neun Vereinen ist wirklich gelungen“, freut sich Bernhard Schmidt, der die NS-Dokumentationsstelle in den vergangenen zehn Jahren mit seinen Mitstreitern aufgebaut hatte und Vorsitzender des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ ist.
Die NS-Dokumentationsstelle ist jetzt Teil des Sammlungs- und Studierbereiches im Rahmen der neuen Nutzung des Landratsamts als museale Präsentation zur Demokratiegeschichte des Kreises Moers und befindet sich damit an einem der geschichtsträchtigsten Orte in der Grafenstadt. Das seit 1984 denkmalgeschützte Landratsamt / Kreisständehaus steht wie kaum ein anderes Gebäude in der Stadt für die wechselvolle Demokratiegeschichte im 20. Jahrhundert. Der Sammlungs- und Studierbereich, den neun Vereine aus der Dachgesellschaft „Neue Geschichte im Alten Landratsamt“ betreuen und in dem Schüler, Historiker und Interessierte zur Geschichte des 20. Jahrhunderts forschen können, ist hell und funktional eingerichtet. Es gibt ein geräumiges Büro, nebenan befindet sich der Studierbereich, der auch Schulklassen an einem Tisch ausreichend Platz zum Forschen bietet.
Herzstück ist aber das Magazin, in dem alle gesammelten Dokumente aufbewahrt werden. Auch die Sammlung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ist inzwischen im Dachgeschoss des Landratsamtes angekommen. „Die Schränke sind entsprechend des jeweiligen Vereinsbedarfs eingebaut worden“, erzählt Bernhard Schmidt. Vor dem Umzug der Dokumentationsstelle ins Landratsamt ging es für ihn aber zunächst ans Aufräumen und Systematisieren seiner umfangreichen Sammlung über die Moerser NS-Vergangenheit. „Ich habe versucht, so viel wie möglich durchzubürsten“, sagt Bernhard Schmidt schmunzelnd. „Einige Unterlagen wie zum Beispiel das Material über die Moerser Städtepartnerschaften ging ins Stadtarchiv.“ Die ehrenamtlich geleitete NS-Dokumentationsstelle untersteht dem Moerser Stadtarchiv und arbeitet zur Dauerausstellung im Alten Landratsamt mit dem Grafschafter Museum zusammen. So stammen viele der Biografien für die geplante Dauerausstellung aus der Feder der Vereinsmitglieder.
Die Unterlagen der Dokumentationsstelle stammen beispielsweise von Zeitzeugen, aus eigenen Recherchen und aus anderen Archiven. Schwerpunkte sind die Bereiche Widerstand, Zwangsarbeit, Weimar, NS-Zeit, Euthanasie/Krankenmorde sowie demokratischer Neubeginn. Ein Teil der Unterlagen ist bereits im Archivprogramm FAUST digital erfasst, um sie für die Forschung besser zugänglich zu machen. „Ein Arbeitskreis, den Thomas Ohl koordiniert, bereitet gerade ein neues Buch über ‚Krankenmorde am Niederrhein’ vor. Gerade dieses Kapitel muss noch ins Moerser Geschichtsbewusstsein“, betont Bernhard Schmidt, der sich künftig mehr auf die ehrenamtliche Arbeit in der Dokumentationsstelle konzentrieren möchte. Er plant, den Vorsitz des Vereins „Erinnern für die Zukunft“, der 2020 das 25-jährige Bestehen feierte, in andere Hände zu legen. Ein Nachfolger ist in Ulrich Hecker bereits gefunden. Bis zu seinem Ruhestand leitete er die Regenbogenschule in Moers.
„Gerade die pädagogischen Aktivitäten nehmen deutlich zu“, sagt Schmidt, warum er künftig im Verein „Erinnern für die Zukunft“ nur Stellvertreter sein möchte. „Wir begleiten Bachelor- und Masterarbeiten zu den Themen Entnazifizierung und Widerstand und ein Dutzend weitere Facharbeiten“, sagt er. Stolz ist er auf die Zusammenarbeit mit Moerser Schulen, aus der ebenso spannende Projekte hervorgingen.
INFO
Neun Vereine für das Alte Landratsamt
▶ Den Verein „Neue Geschichte im Alten Landratsamt“ tragen: Erinnern für die Zukunft, Gesellschaft für Christliche und Jüdische Zusammenarbeit, GEW Kreis Wesel, Verein Internationale Jugendarbeit mit Israel im Kreis Wesel, Förderverein der Volkshochschule Moers-Kamp-Lintfort, der Freundeskreis Hanns Dieter Hüsch, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Ortsverband Moers), Kirchenkreis Moers und Grafschafter Museums- und Geschichtsverein.
▶ Ins Landratsamt eingezogen sind bereits eine Außenstelle der VHS und das Kulturbüro Moers. 2021 soll auch die Dauerausstellung zur Demokratiegeschichte eröffnet werden. Eine Abteilung ist dem Moerser Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch gewidmet.
KOMMENTAR
Ein kluger Kontrapunkt
Von 1933 bis 1945 walteten die Nationalsozialisten im Alten Landratsamt. Sie stellten Deportationslisten für die Konzentrationslager auf und entschieden hier über Schicksale vieler Menschen. Dass die Aufarbeitung der NS-Zeit und die Aufklärung über die Verbrechen der Nationalsozialisten nun im Landratsamt ihren Platz finden, setzt einen klugen und wichtigen Kontrapunkt zu dieser dunklen Zeit in dem Gebäude. Hier werden hoffentlich viele Schüler, Studenten und interessierte Moerser über die Geschichte ihrer Stadt forschen, sobald die Corona-Pandemie es denn wieder zulässt. Zu verdanken ist dies dem unermüdlichen Engagement des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ und der Gesellschaft für christliche und jüdische Zusammenarbeit sowie vieler weiterer Mitstreiter mit ihren Sammlungen, Biografien und anderen wichtigen Dokumenten – aber auch dem rechtzeitigen Besinnen, dass ein solch geschichtsträchtiges Gebäude in städtischer Verantwortung bleiben muss. Mit Spannung darf jetzt die Eröffnung der Dauerausstellung über die Demokratiegeschichte der Grafenstadt im 20. Jahrhundert erwartet werden, vielleicht klappt es ja 2021. aka
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Foto: Christoph Reichwein, Rheinische Post 07.01.2021
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Bildtext Rheinische Post 07.01.2021:
Bernhard Schmidt (vorne) möchte sich zukünftig verstärkt auf die Arbeit in der NS-Dokumentationsstelle konzentrieren. Er gibt deshalb den Vorsitz im Verein „Erinnern für die Zukunft“ an Ulrich Hecker ab. Schmidt bleibt aber Stellvertreter im seit 25 Jahren bestehenden Verein.